Raja Yoga

Raja Yoga (Königsyoga, Oberstufe des Yoga-Weges)

Es ist schon faszinierend welche Popularität „Yoga“ bei uns im Westen erlangt hat. Nahezu jede Frau und die meisten Männer hatten schon einmal in irgendeiner Weise Kontakt zu Yoga-Übungen oder wissen etwas darüber. Selbst Kindern und Jugendlichen ist bekannt, dass man dabei bestimmte Körperstellungen einnimmt und eventuell noch Atemübungen ausführt. Außer Fußball fällt mir kaum eine Freizeitbeschäftigung ein, die derart verbreitet und beliebt ist. Faszinierend ist aber auch die Begriffsverwirrung und -vielfalt auf diesem Gebiet. Man findet eine starke Betonung von Körperarbeit und Atemübungen (Hatha-Yoga) aber Yoga ist weit mehr, als den meisten bewusst ist!

Die 8 Stufen nach Patanjali (Ashtanga-Yoga)

Es gibt unzählige Einteilungen, Systeme und Richtungen zum Yoga. Hier soll uns der klassische Yoga-Pfad nach Patanjali als Grundlage dienen, der eine der vier grundlegenden Yogaschriften darstellt. Meist wird dieser Weg auch als Ashtanga oder Raja Yoga bezeichnet. Zur Erinnerung die acht Stufen:

  1. Yama – 5 ethischen Verhaltensregeln
  2. Niyama – 5 Regeln der Selbstdisziplin
  3. Asana – Schulung des Körpers mittels Yogastellungen
  4. Pranayama – Atem-/Energiekontrolle
  5. Pratyahara– Zurückziehen der Sinne von der Außenwelt
  6. Dharana – Konzentration auf nur einen Gedanken
  7. Dhyana – Meditation, Nicht-Denken-Flow
  8. Samadhi – Überbewusstsein, Einheitsbewusstsein, Erleuchtung
    (im Buddhismus: „Anuttara samyak sambodhi“)

Übrigens findet man diese Inhalte sinngemäß bei nahezu allen Religionen und Befreiungswegen, wie z. B. moralische Regeln in Form von Geboten (Christentum, Buddhismus), eine gewisse Askese (alle Religionen, wie z. B. Ramadan, Fastenzeit), körperliche und geistige Hygiene, Besinnung, Gebete, Mantras, Kontemplation, Rückzug und Meditation bis hin zur Erleuchtung. Diese wiederum erscheint mit vielen Benennungen in allen Wegen dieser Welt als Moksha, Satori, Samadhi, in der Liebe zu Gott aufgehen u.s.w. Letztlich dürfte sich auch der Gottbegriff (Allah, Jehova, Gott, Jahwe, Shiva, Samadhi …) mehr im Wort unterscheiden als in der gemeinsamen intuitiven Sehnsucht aller Menschen.

Was ist das Wesen des Raja Yoga?

Bekannt geworden ist Raja Yoga vor allem durch Vivekananda (1863–1902), der in seinem Buch „Raja Yoga“ den achtgliedrigen Yoga von Patanjali erklärt und auch den Yogasutra übersetzt. Vivekananda schätzte den Raja Yoga höher ein als die anderen von ihm gelehrten Yogawege. Aus der Sicht der Weisheit, gibt es allerdings kein „höher“, sondern lediglich ein „ganzheitlich“!

Raja Yoga wird heute meist im Sinne von Vivekananda interpretiert, beinhaltet also alle acht Stufen. Doch gibt es auch Richtungen, die die ersten Stufen, namentlich Asana und Pranayama, als Hatha Yoga definieren, der vorbereitend für den Raja Yoga wirken. Dieser beinhaltet dann die letzten drei Stufen Dharana, Dhyana und Samadhi. Letztlich wird Raja Yoga auch mit Meditation gleichgesetzt.

Der Raja Yoga befasst sich also mit der Geisteskontrolle. Danach ist Raja Yoga „samenlose Meditation oder perfekte Kontrolle von Geist und Atem“. Er führt zur Auflösung des Geistes und zu Befreiung (samadhi, im Buddhismus „diamantgleiche Konzentration“ genannt). Menschen mit unruhigem Geist können dank Hatha Yoga als Vorbereitung den Raja Yoga erlernen. Nach meiner Erfahrung können sportlich aktive Menschen, die bereits körperlich ausgeglichen sind, auch direkt in den Raja Yoga einsteigen.

Indischer Raja Yoga (Meditation) und japanisches Zen (Zazen)

Alle Befreiungswege über alle Kulturen und Religionen bieten meditative Wege und Methoden an. Ich habe in über 38 Jahren die Gemeinsamkeiten herauskristallisiert und als begriffs- und konfessionsneutrale Essenz in Büchern zum Ausdruck gebracht. Ganz kurz möchte ich den indischen (Yoga) mit dem japanischen Weg (Zen) vergleichen:

Im Raja Yoga beginnt man nach einer Phase des Rückzuges mit einspitziger Konzentration auf ein Objekt (Stein, Wand, Natur, Geräusch), auf eine Idee (Mitgefühl, Liebe, Auflösung des Selbst) oder eine vorbildhafte Person (Buddha, Gurus, Erleuchtete). Man sagt, und dies ist die Erfahrung vieler Yogins und auch meine, dass man bei der totalen, einspitzigen Konzentration über 12 Sekunden, in der absolut kein anderer Gedanke, nicht einmal im Keim, erscheinen soll, bereits von „Dharana“ (6. Stufe) sprechen kann. Diese Zeitdauer der konzentrierten Wachheit („Wie eine Katze vor dem Mauseloch!“) wird durch lange Übung immer weiter ausgedehnt bis auf 12 mal 12 Sekunden (ungefähr 2,5 Minuten), was bereits eine meisterhafte Leistung darstellt.
Nach dieser Zeit lässt der Geist oft ganz von selbst auch von diesem letzten Punkt der Konzentration los. Dann tritt Nicht-denken auf, das man auch als Dhyana oder Meditation (7. Stufe) bezeichnet. Sobald man die Konzentration 12 mal 12 mal 12 Sekunden halten kann, also nahezu eine halbe Stunde lang ununterbrochen, erscheint mit der Zeit ganz von selbst und automatisch-unbewusst das Samadhi, der Flow des erleuchteten Nicht-Denkens, in dem der Geist an nichts mehr gebunden ist (Subjekt=Objekt). Diese Erfahrung kann dem Übenden nie mehr genommen werden und verändert ihn lebenslang und bleibend! Man spricht von nun an von einer „erleuchteten Person“, selbst wenn diese Erfahrung mit den Jahren der Übung und im Alltag erst noch ausreifen muss.

Der japanische Weg des Zazen, das Nur-Sitzen, ist etwas anders gelagert, führt aber zum gleichen Punkt, dem Nicht-Denken (Hishiryo, Samadhi, Erleuchtung). Hier sitzt der Übende mit aufrechtem Körper weitgehend bewegungslos, in einer Stellung also, in der er kaum schlafen kann, die stabil und dennoch sehr entspannt ist. Berühmte Zen-Meister wie Zenji Dogen (Begründer der größten Zen-Richtung des Soto) sagen, man meditiere mit dem Körper. Dies bedeutet, da es keine wirkliche Trennung zwischen Körper und Geist gibt, dass der Geist der wachen und ruhigen Körperhaltung mit der Zeit ganz natürlich und automatisch folgt – er wird absolut ruhig bei maximaler Wach- und Bewusstheit, was wiederum der (Ersten) Erleuchtung (=Satori, Hishiryo) entspricht.
Hier existiert keinerlei Bindung und Identifikation mehr mit Gedanken und Gefühlen. In meinen Meditationsmeetings spreche ich davon, dass das Denken hier nicht versiegt, sondern es wird wie Wind: Alles wird gleichzeitig im ewigen Jetzt erfahren, aber ohne es zu berühren oder dabei zu verweilen, ohne nach-zudenken. Jedes Jetzt wird denkfrei erlebt, ohne dass der Geist Vorstellungen oder Unterscheidungen produziert. Die Täuschungen des Geistes haben sich in der Leere aufgelöst, aber ohne an die Leere zu denken (Daikan Eno) – also eine Ent-Täuschung des Denkens.

Anmerkung: Manche Zen-Meister der Rinzai-Schule ergänzen das Zazen noch durch sog. Koan, rätselhafte Fragen bzw. „Angelhaken“ für die Schüler, die mit dem gewohnten, rationalen Denken nicht zu lösen sind, sondern mit dem naiven Geist eines Kindes, mit der Erfahrung, mit Allem eins zu sein, mit Mitgefühl und Liebe. Damit soll das normale Denken überwunden werden hin zu einem intuitiven Handeln aus dem Herzen heraus.

Kurz: Sowohl Raja Yoga als auch Zen führen zur Befreiung des Geistes bis hin zur Auflösung des konventionellen Denkens, wo man die Welt wach, bewusst und ohne Vorstellungen rein intuitiv erfährt. Damit wird das Leiden beendet, wie Buddha und andere Weise sagten, weil Begierde, Zorn und Verblendung verlöschen.

Ist Raja Yoga besser als Hatha Yoga?

Auch wenn der Raja Yoga selbst bei Vivekananda und wie auch der Name (königlicher Yoga) impliziert, als der höchste Yoga gilt, darf man eines nicht vergessen: Körper und Geist sind eine Einheit, nur im Sprachgebrauch durch zwei Worte bezeichnet, weshalb sowohl Hatha als auch Raja Yoga untrennbar verbunden sind. Auch die Asanas oder Prana-Übungen benötigen bereits ein hohes Maß an Konzentration. Diese Konzentration ist aber noch abhängig von einer Tätigkeit. Um aber vollständig befreit zu sein, muss der Übende auch noch lernen, von allen Bedingungen (Atem, Asanas, Konzentration) mental loszulassen, was erst mit den letzten drei subtilen Stufen des klassischen Yoga-Weges, der Meditation, gelingen kann.
Deshalb gibt es kein höheres oder besseres Yoga, nur einen ganzheitlichen Weg, der alle Aspekte des Menschen beachtet,
Wichtig: Und genau dies ist der Grund, warum man nicht bei Asanas und Pranayama stehen bleiben sollte!

Bleib nicht auf halbem Wege stehen: Fitnessstudio für den Geist

Wenn man den Fitness- und Körperkult des Westens mit Magermodels, gestählten Männern, Abnehmexzessen und schönen Menschen in der Werbung betrachtet, wird dem denkenden Menschen sofort das bestehende Ungleichgewicht bewusst. Auch die meisten Menschen im Westen halten den Yoga-Weg für körperorientiert. Warum? Körperliche Fortschritte sind für selbst den unsensitivsten Menschen leicht erkennbar, vorzeigbar und verheißen Lob und Anerkennung. Eine extrem schwierige Asana verblüfft den Betrachter.
Wenn ich Newbees von Meditationsphasen über Stunden berichte, dann ernte ich oft nur ungläubiges und nicht selten mitleidiges Lächeln: „Als ob es etwas Besonderes sei, stundenlang faul herumzusitzen und zu träumen!“

Dabei geht es ja gerade darum, vom ständigen Träumen (den Gedanken an Vergangenheit und Zukunft) loszukommen und das Leben voll im aktuellen Jetzt zu erfahren. Und wer schon einmal versucht hat, nur eine halbe Stunde in Meditationshaltung (Seiza, burmesischer Sitz, halber oder voller Lotos) wirklich ruhig zu verharren, der wird erahnen, was es bedeutet, wenn ein Guru oder Zen-Meister 12 Stunden oder länger in Versenkung sitzt. Es ist ein Leichtes, ständig in Aktion zu sein, seinen Gedanken durch Ablenkungen auszuweichen. Es ist eine ganz andere Hausnummer, sich dem inneren Chaos zu stellen und irgendwann die alles entscheidende Lebensfrage zweifelsfrei beantworten zu können: „Wer bin ich?“

Man bekommt Geistesklarheit, innere Ruhe und Erkenntnis nicht geschenkt. Meditation ist das Fitnessstudio des Geistes. Hier wird das Schwert der Achtsamkeit geschärft. Aber sie ist nur ein Werkzeug. Wofür? Um im Alltag nachhaltig mehr Lebensfreude zu erfahren – lebenslang! So wie trainierte Muskeln für das ganze Alltagsleben nützlich sind, so trainiert man in Meditation (Raja Yoga) den Geist, um im ganzen Lebensumfeld geistig freier, konzentrierter und glücklicher zu sein.

Lasse Dich nicht verwirren!

Es gibt tausende Methoden und Wege zu geistiger Freiheit und damit Lebensfreude, und doch ist es letztlich nur einer! Ob Raja Yoga, Zazen, Meditation, Kontemplation, Gebete, Mantras, unzählige Yoga-Stile … es läuft bei allen immer auf das Gleiche hinaus:

Ethik – Körperarbeit – Ruhe – Beobachten wie ein Zeuge – Konzentration – Loslassen – Zulassen und Annehmen ohne zu urteilen. Punkt!

Wenn man dies verstanden hat, können einen die unterschiedlichen Wege nicht mehr verwirren und man wird in die Lage versetzt, ballastfrei, ohne traditionelle Begriffe und Rituale, sehr zügig zu innerer Ruhe, Wunschlosigkeit und Lebensfreude durch geistige Freiheit zu gelangen.

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